Politik

Hass im Netz: Österreichs Weg aus dem „Social Dilemma“

Der Wecker klingelt, draußen ist es noch dunkel, die Finger tappen auf den Nachttisch. Der erste Griff auf’s Handy. Kommt Ihnen das bekannt vor?
Die neue Netflix-Dokumentation „The Social Dilemma“ des US-Regisseurs Jeff Orlowski erscheint in einem Jahr, in dem unser ohnehin stetig wachsender digitaler Konsum nochmals einen radikalen Anstieg erlebt. Die Covid-Pandemie macht uns noch abhängiger von Messenger-Diensten und Plattformen wie Facebook oder Instagram, denn diese vermitteln uns – trotz des Lockdowns – ein Gefühl der Gemeinschaft. Dass mit diesen Plattformen jedoch nicht nur positive Gefühle verbunden sind, merken viele von uns schon lange.

Soziale Netzwerke aus der Sicht ehemaliger MitarbeiterInnen

„The Social Dilemma“ führt uns schonungslos vor Augen, wie sich Soziale Netzwerke auf einer individuellen Ebene auf unsere Psyche auswirken, wie Algorithmen unser Verhalten beeinflussen und wie wir unbewusst immer abhängiger von ihnen werden. Die Dokumentation erzählt die Geschichte von Sozialen Netzwerken, die uns an demokratischen Institutionen und ihren RepräsentantInnen zweifeln lassen, sowie Verschwörungstheorien und Desinformation Raum geben.

All das ist uns mehr oder weniger bekannt, widmen sich doch bereits eine Reihe von Dokus und Literatur der Macht der Plattformen im Netz. Das wirklich Erstaunliche an der Dokumentation ist jedoch, dass uns diese Geschichte von ehemaligen – teilweise hochrangigen – MitarbeiterInnen von Firmen wie Facebook, Twitter, Pinterest und Google geschildert wird. Diese beschreiben in selbstkritischer, teils zynischer und resignierter, teils hoffnungsvoller Art, wie sie selbst zum postulierten sozialen Dilemma beigetragen haben. Den ProtagonistInnen zufolge führt dieses Dilemma in einem weiteren Schritt zu immer mehr Spaltung in der Gesellschaft und zu ziviler und politischer Unruhe. Gefragt nach Verantwortlichen oder „Schuldigen“ meint Tristan Harris, ehemaliger Google-Mitarbeiter und Protagonist der Doku, „There’s no one bad guy, no, absolutely not“ und weist damit auf die Komplexität der von Algorithmen getriebenen Plattformen hin.

Nationale Gesetzesentwürfe als Ausweg aus dem sozialen Dilemma?

Während sich „The Social Dilemma“ viel Zeit für Problembeschreibung und Analyse nimmt, wird möglichen Lösungsansätzen lediglich weniger als ein Drittel des Films gewidmet. Oft hört man das Schlagwort „Regulierung“ in Bezug auf Plattformen. Wie diese jedoch im Detail aussehen soll, bleibt völlig offen.
In Österreich versucht sich die Regierung seit diesem Jahr verstärkt dem „sozialen Dilemma“ aus Hass und Gewalt im Netz zu widmen. Erst vor Kurzem ging die Begutachtungsfrist zu zwei zentralen Gesetzen der Plattformregulierung zu Ende: Die Umsetzung der AVMD-Richtlinie (Audiovisuelle Mediendienste-Richtlinie) und das KoPl-G (Kommunikationsplattformen-Gesetz). Beide Gesetze verfolgen das Ziel, Plattformen stärker in die Pflicht zu nehmen, ob mit Erfolg, wird sich noch zeigen. Eines weiß man allerdings jetzt schon: Derartige nationale Initiativen greifen laut Bürgerrechtsorganisationen wie epicenter.works erheblich in das Recht auf freie Meinungsäußerung ein, da die Plattformen wegen der hohen Strafandrohungen und starren Löschfristen wohl lieber mehr als zu wenig löschen („Overblocking“).

Grundrechte als erste Opfer im Kampf gegen Hass im Netz

Muss man Einschnitte in unsere Grundrechte im Kampf gegen Hass im Netz und Desinformation in Kauf nehmen?


Wenn man einen Blick in die Welt wirft, gewinnt man diesen Eindruck. Das deutsche Hass-im-Netz-Gesetz, das NetzDG, war nicht nur Vorbild für unser nationales Kommunikationsplattformen-Gesetz, sondern auch für eine Reihe weiterer Gesetze in Ländern wie Kenia, Indien, den Philippinen, Frankreich und Australien. Alle diese Gesetze haben eines gemeinsam: Sie werden dafür kritisiert die Meinungsfreiheit einzuschränken.
Laut der Stellungnahme der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) muss das aber nicht zwingend so sein, denn man könnte beispielsweise die Beurteilungsmacht darüber, was Recht und Unrecht ist, welche Inhalte entfernt werden sollten und welche nicht, nicht an Plattformen auslagern, sondern eine Justizbehörde oder eine andere zuständige Behörde beurteilen lassen, deren Entscheidung einer gerichtlichen Überprüfung unterliegt.

Social Media als Spiegel der Gesellschaft

Angesichts der Rufe nach verstärkter Regulierung dürfen wir etwas ganz Wesentliches nicht aus den Augen verlieren: Das, was auf großen Plattformen hochgeladen wird, Hasskommentare auf Facebook, diskriminierende Videos auf YouTube und rassistische Karikaturen auf Instagram, gehört zu unserer Gesellschaft. Social Media hält uns nur den Spiegel vor. Was es daher dringend braucht ist ein Umdenken.

In „The Social Dilemma“ beschreiben Ex-MitarbeiterInnen der Plattformen schlussendlich ein Regelwerk für ihre eigenen Kinder. Diese dürften erst ab einem gewissen Alter Zugang zu Social Media erhalten, der dann auch zeitlich klar begrenzt wird. Während diese Regeln definitiv nur ein erster Schritt sind, zeigen sie uns doch auf, was wirklich wichtig ist: Bewusstseinsbildung. Das unterstreicht auch, was viele NGOs seit Jahren fordern: Wir müssen verstärkt in Bewusstseinsbildung und Opferschutz investieren, in die Ausbildung von Digital Skills bereits bei den Jüngsten unserer Gesellschaft und in Ressourcen der Justiz. Das ist sicherlich der nachhaltigere Weg.


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